Gesellschaft ohne Empathie

     


    Mit spitzer Feder …


    (Bild: zVg)

    Empathie ist für mich lebensnotwendig – sie ist ein unerlässlicher Kompass, der mich zuverlässig durch sämtliche Stürme des Lebens führt. Als hochsensibler Mensch besitze ich jede Menge Empathie. Und ich freue mich jedes Mal, wenn ich einen empathischen Mitmenschen treffe. Aber leider sind diese Menschen mit ihren feinen Antennen und ihrem ausserordentlichen Gespür für ihr Gegenüber eher in der Minderheit. Immer wieder erlebe ich im Alltag Situationen, wo ich konsterniert feststellen muss, dass wir uns immer mehr in einer Gesellschaft ohne Empathie bewegen. Und das ist (für mich) schlimm. Und ich frage mich: Zerfällt unsere Gesellschaft in einzelne Grüppchen, die sich in grosser Empörung gegenüberstehen, statt in Empathie einander zu helfen? Empathie scheint in einer modernen Gesellschaft nichts verloren zu haben. Oft unbewusst wird mit Empathie oder Mitgefühl die Vorstellung verbunden, die andere Seite erwartet etwas. Wenn man also Mitgefühl zeigt, macht man sich angreifbar, ist vulnerabel und zeigt eine offene Seite, die dann ausgenutzt werden kann. Mitgefühl zeigen bedeutet Schwäche. So werden beispielsweise Menschen in Not nicht mehr als Individuum betrachtet, sondern als Masse. Wer zuhört, die Argumente der Gegenseite respektiert, wertschätzt und achtet, hat verloren. Es geht nicht darum, den besten gemeinsamen Weg zu finden, mal das Argument der Gegenseite aufzunehmen und einzugestehen: Nein – es geht einzig darum, die eigene Position als alternativlos durchzusetzen. Teamorientiert arbeiten wird zwar oft gewünscht und in Stellenausschreibungen genannt, aber im Alltag gewinnt, wer sich am besten und schnellsten durchsetzt.

    Wir leben in einer langen Zeit des Friedens. Unsere Eltern konnten einen Wohlstand aufbauen, von dem die jüngeren Generationen profitieren. Dieser Wohlstand führt auch dazu, dass der Wunsch ihn zu vermehren immer grösser ist, und der Blick auf den Nächsten, der vielleicht meine Hilfe braucht, zweitrangig ist. Wenn es einem gut geht, ist man weniger auf Hilfe und Unterstützung angewiesen. Man schafft es selbst. Die eigenen Ressourcen reichen aus. Auch diese Einstellung führt dazu, dass Empathie – die Eigenschaft, den anderen wahrzunehmen als Mensch in seiner Gesamtheit – immer weniger gefragt ist. Er oder sie könnte ja etwas von mir brauchen. Meinen Rat, meine Zeit, meine Ressourcen. Besser nicht hinsehen, dann weiss man nichts und ist für nichts verantwortlich. Jeder kann es selbst schaffen. Dass aber die Grenze marginal ist, plötzlich selbst zu wenig zu haben, in Not zu geraten und auf Unterstützung von anderen angewiesen zu sein, wird oft vergessen.

    Empathische Menschen «sehen» das Gegenüber. Sie nehmen wahr, was an Körperspannung da ist, was Gestik und Mimik vermitteln, die Worte aber nicht ausdrücken. Sie sehen den ganzen Menschen und vermitteln ihm Respekt und Wertschätzung. Gerade in schwierigen Situationen ist dies ein unschätzbarer Vorteil, weil diese Einstellung zu einem konstruktiven Miteinander führt. Nur wer hinsieht, kann wahrnehmen und verstehen. Sich in den anderen hineinzuversetzen bedeutet, die eigene Burg zu verlassen und ein Verständnis zu entwickeln für das Gegenüber. Wer sich in einen anderen Menschen hineinversetzen, seine Motivation und sein Verständnis nachvollziehen kann, ist auf dem besten Weg, Lösungen zu finden und Gemeinsamkeiten zu stärken. Es ist aber auch eine Chance, andere Welten zu entdecken, inspiriert zu werden. Nicht selten entsteht daraus etwas Schönes und Sinnvolles – vielleicht sogar eine Freundschaft fürs Leben. Das sind oft «versteckte» Geschenke der göttlichen Mächte, die zu unserem Wohl sind – die wir aber oft auf den ersten Blick nicht erkennen.

    Ohne Empathie, das Mitfreuen, Mitleiden, Mitgehen, Zueinanderstehen wird eine Gesellschaft oder auch eine Gemeinschaft von Menschen ärmer und verliert. Denn wer im anderen immer nur den Gegner sieht, nicht den Mitmenschen, wird misstrauisch, voller Angst und Sorgen. Letztlich verliert man dadurch sein Menschsein, weil nur noch Angst, Sorgen und Abwehr einen bestimmen und die Seele umklammern. Deshalb wünsche ich uns allen mehr Miteinander, mehr Wertschätzung und Respekt. Wir bauen nur gemeinsam eine bessere Welt – das geht nur gemeinsam, im Geben und Nehmen, mit offenen Ohren, Augen und einem zugewandten Herzen!

    Herzlichst,
    Ihre Corinne Remund
    Verlagsredaktorin

    Vorheriger ArtikelVerleihung des Post-Förderpreises 2024
    Nächster Artikel«Wir entwickeln uns zur Biernation»